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Todesursache "Erschöpfung"

Schwarzweiß Foto zweier Männer, die an einem Tisch sitzen, im Hintergrund ein Krankenbett.

Todesursache: „Erschöpfung“

Hungersterben in der Heilanstalt Warstein 1914-1919

Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn wurden im Deutschen Reich die Nahrungsmittel knapp. Alle Reserven wurden für den Krieg mobilisiert. Spätestens im sogenannten „Steckrübenwinter“ mussten ab Ende 1916 große Teile der Bevölkerung hungern.

Besonders hart waren die Patienten der Heil- und Pflegeanstalten von den Auswirkungen des Krieges betroffen. Im Unterschied zur Zivilbevölkerung konnten die Insassen „totaler Institutionen“, in Psychiatrien, Gefängnissen oder Armenhäusern nicht für sich selbst sorgen. In den deutschen psychiatrischen Einrichtungen kam es zu einem Massensterben, dem zwischen 1914 bis 1919 mehr als 70.000 Patienten zum Opfer fielen.

Die Ausstellung

Am Beispiel der damaligen Heilanstalt Warstein will die Ausstellung Einblicke in den von Mangel und Entbehrung geprägten Alltag einer psychiatrischen Anstalt im Ersten Weltkrieg geben. Aspekte wie der Personalmangel, die sich verschlechternde Versorgungslage und der Umgang mit eingewiesenen Soldaten werden thematisiert. Dabei stellt die Ausstellung auch die Frage, wie die Anstalt sowohl mit den Opfern des Hungersterbens, als auch des Krieges umging und geht auf verschiedene Formen des Gedenkens ein.

Neben Fotos veranschaulichen Objekte aus dem Psychiatriemuseum Warstein sowie Archivalien und Dokumente aus dem LWL-Archivamt das Anstaltsleben zwischen 1914 bis 1918. Anhand ausgewerteter Krankenakten werden beispielhafte Lebenswege einzelner Patienten nachgezeichnet.

Panoramaansicht der Provinzialheilanstalt Warstein, Foto: LWL-Psychiatriemuseum Warstein

Die Heilanstalt Warstein

Im April 1904 begann vor den Toren der Stadt Warstein der Bau einer 5. westfälischen Provinzialheilanstalt. Am Hang des Stillenbergs entstand im sogenannten Pavillonstil eine knapp 25 Hektar große Parkanlage mit 33 Kranken-, Wirtschafts- und Verwaltungsgebäuden, einer Anstaltskirche, einem Friedhof sowie Dienstwohngebäuden für die Ärzte und Angestellten. Ein Maschinengebäude, eine Wasch- und Kochküche, eine Metzgerei, Bäckerei und ein eigener Gutshof sollten eine größtmögliche Selbstversorgung sicherstellen. Zum 01. April 1905 trat der erste Direktor Dr. Hermann Simon seinen Dienst an. Obwohl viele Gebäude noch nicht fertig waren, trafen am 15. August die ersten Kranken aus der Anstalt Lengerich ein. Bis Ende März 1914 hatte die Warsteiner Anstalt 1431 Patienten aufgenommen und war damit eine der größten westfälischen Einrichtungen. Zum Personal gehörten 8 Ärzte, 92 Pfleger, 75 Pflegerinnen und 52 Angestellte.

Geländeplan der Provinzialheilanstalt Warstein, PMW_2020_12, Foto: LWL/Mathias Lehmann

Kolorierter Geländeplan der Provinzialheilanstalt Warstein im Jahr 1909

Fehlendes Pflegepersonal

Ab dem 01. August 1914 begann in allen Städten und Gemeinden die Mobilmachung.

Auch aus der Heilanstalt wurden die wehrfähigen männlichen Pflegekräfte und Angestellten zum Kriegsdienst eingezogen oder meldeten sich freiwillig. Es kam zu einem erheblichen Personalmangel. Zeitweise fielen Zwei Drittel der männlichen Pflegekräfte aus. Von den angestellten Ärzten wurden der Oberarzt Dr. Scherenberg sowie die Abteilungsärzte Dr. Paasche und Dr. Maurer zum Militärdienst eingezogen. Selbst der Einsatz ungelernter Hilfskräfte verbesserte die angespannte Situation nicht. Vielmehr bewirkte der Krieg eine Aufhebung der bis dahin üblichen strikten Geschlechtertrennung: Einzelne Abteilungen der Männerseite wurden nun von weiblichen Pflegekräften übernommen. Im Jahr 1917 versahen 35 Pflegerinnen auf elf Männerabteilungen ersatzweise ihren Dienst.

Weibliches Pflegepersonal der Warsteiner Anstalt, Foto: LWL-Psychiatriemuseum Warstein

Im Krieg musste das weibliche Pflegepersonal männliche Aufgaben übernehmen.

Reservelazarett und Kriegsneurosen

Viele Soldaten waren durch grauenvolle Fronterlebnisse psychisch traumatisiert. Im Verlauf des Krieges stieg die Zahl der sogenannten „Kriegsneurotiker“ oder „Kriegszitterer“. In vielen westfälischen Psychiatrien wurden deshalb Reservelazarette eingerichtet. Den Großteil der von der Heeresverwaltung überwiesenen Soldaten nahm die Heilanstalt Münster auf. Die 1914 neuerrichtete Anstalt in Gütersloh wurde in ein Gefangenenlager umfunktioniert. Warstein war dagegen nicht als Standort für ein größeres Lazarett vorgesehen. In einer freigewordenen Dienstwohnung wurden 20 Krankenbetten für nervöse Kriegsbeschädigte bereitgehalten. Für das Studium von Kriegsneurosen richtete das Reservelazarett Soest eine eigene Korpsnervenabteilung ein. Im Laufe des Jahres 1917 wurden hier 70 Soldaten mit Zittererkrankungen aufgenommenen. Die Behandlung fand mittels Wachsuggestion, elektrischem Strom, Hypnose oder Isolierung statt. Es ging weniger um eine individuelle Behandlung, sondern darum, die Soldaten wieder „fronttauglich“ zu machen.

Elektrisierapparat der Medizinischen Waarenhaus AG, PMW_2021_41, Foto: LWL/Emil Schoppmann

Reizstromgerät für die Elektrotherapie, die im Ersten Weltkrieg besonders zur Behandlung von „Kriegszitterern“ eingesetzt wurde.

Der Gutshof der Heilanstalt Warstein, Foto: LWL-Psychiatriemuseum Warstein

Versorgung im Krieg

Der Ausbruch des Krieges brachte für die Warsteiner Heilanstalt große Veränderungen mit sich. Als Folge der britischen Seeblockade fehlten bald wichtige Desinfektionsmittel, Medikamente oder Verbandsstoffe. Es kam zu einer erheblichen Beeinträchtigung der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Als Sparmaßnahme wurden in Warstein die Klinikgebäude an 5 Tagen nur halb beheizt.

Dank des klinikeigenen Gutshofes war die Anstalt nicht komplett auf die Zuteilungen von Nahrungsmitteln angewiesen. Sie konnte sich selbst mit Milch, Eiern und im geringen Umfang mit Fleisch versorgen. Allerdings nahm die Produktivität im Verlauf des Krieges erheblich ab. Noch im Jahr 1918 war das Kraftfutter außerordentlich teuer und minderwertig.

"Mittelalterliche Zeiten"

Angesichts der steigenden Lebensmittelpreise wurde es für den seit 1914 provisorisch eingesetzten Direktor Dr. Alfred Schmidt immer schwieriger, Nahrungsmittel in ausreichender Menge zu beschaffen. Zunächst war nur Brotgetreide von der Rationierung betroffen. Bald fehlten auch wichtige Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Fleisch und Fett. Überall musste gespart und improvisiert werden. Die siechen Kranken wurden ganz vegetarisch ernährt. An die Zubereitung einer schonenden Krankenkost war nicht mehr zu denken. Gesalzener und getrockneter Klippfisch sollte die Eiweißversorgung sicherstellen. Mit Weißbrot und Stärke wurde der haltbare Seefisch in der Kochküche zu Bratklößen verarbeitet. Täglich erhielten die Patienten durchschnittlich 80 Gramm Weizenbrot und 220 Gramm Roggenbrot aus der klinikeigenen Bäckerei, das mit Bohnenmehl und Kartoffelstärke gestreckt wurde.

Teller aus Blech. PMW_2022_46, Foto: LWL/Emil Schoppmann

Unzerstörbare Teller aus Blech wurden noch bis in die 1950er Jahre genutzt.

Nichts als Steckrüben

Im dritten Kriegswinter 1916/17 gingen die Kartoffelvorräte zu Ende. Aufgrund der schlechten Witterung und Kartoffelfäulnis lag die jährliche Kartoffelernte nur bei etwa 50% des Friedensertrages. In ganz Deutschland wurde die Kartoffel durch die weniger nährreiche, jedoch noch in großen Mengen vorrätige Steckrübe ersetzt. Bis zum 28. November 1916 hatte die Warsteiner Klinikleitung 83.000 Kilogramm Rüben angekauft. Mittags und abends kamen meist nur noch Steckrüben oder Graupen als „Durcheinandergekochtes“ auf den Tisch. Die Rüben wurden mit Zucker gesüßt oder mit Essig eingesäuert, um eine allzu große geschmackliche Eintönigkeit zu vermeiden. Versuche, sie gemahlen zum Brotbacken zu verwenden, wurden aufgrund des starken Eigengeschmacks wieder aufgegeben.

„Erhebung der Vorräte an Kartoffeln“ im Jahr 1915.

„Erhebung der Vorräte an Kartoffeln“ im Jahr 1915.

Dechant Franz Stille erinnert sich:

Anstaltspfarrer in Warstein von 1914-1918

„Vor dem Krieg und in den ersten Kriegsjahren war die Ernährung sehr gut; alles war zufrieden. Aber schon 1916 setzte der Mangel ein. Im Herbst 1916 war geradezu Not da, sodass die Kranken auf einzelnen Stationen eine bedrohliche Haltung annahmen. Ich weiß noch, wie in jenen Tagen nach einer Besprechung mit der gesamten Beamtenschaft der Direktor Dr. Schmidt den zeitigen Landrat Gorius telephonisch anrief: „Falls bis zum Abend keine Kartoffeln hier sind, muss ich die Türen öffnen und die Kranken laufen lassen - wir können sie in den Häusern nicht mehr halten.“ Gegen Abend kamen dann einige Fuhren Kartoffeln an aus Mellrich und Uelde, und die Kranken konnten so beruhigt werden.“

Porträt Anstaltspfarrer Franz Stille in Warstein von 1914-1918

Eintragung im Sterbebuch, LWL-Archivamt, Best. 660/Nr. 580, Foto: LWL/Emil Schoppmann

Todesursache: „Erschöpfung“

Die sich qualitativ verschlechternde Kriegskost bewirkte eine zunehmende Unterernährung und Mangelerscheinungen. Auf die eintönigen Speisen reagierten einige Patienten zunächst mit gesteigerter Erregung. Gleichzeitig sank die körperliche Widerstandsfähigkeit. Die schwer verdaulichen Steckrüben führten bei den geschwächten Patienten häufig zu tödlich verlaufenden Durchfallerkrankungen. Verheerend wirkte sich 1917 ein Erlass des Kriegsernährungsamtes aus, der die Lebensmittelversorgung von Anstaltsbewohnern auf das Verpflegungsmaß der gesunden Bevölkerung reduzierte. Mit 332 Sterbefällen erreichte die Todesrate in der Warsteiner Heilanstalt im Jahr 1918 ihren Höhepunkt. In allen westfälischen Heil- und Pflegeanstalten litten Kranke, Alte und Pflegebedürftige besonders unter der dürftigen Kriegsernährung. 

Einband des Sterbebuchs, LWL-Archivamt, Best. 660/Nr. 580, Foto: LWL/Emil Schoppmann

Alle Sterbefälle wurden durch Dechant Franz Stille in einem Sterbebuch verzeichnet.

Sonderbericht aus den Jahr 1917:

„Selbstredend konnte der geringe Eiweißgehalt mit der Zeit nicht ohne Einfluss auf den Ernährungszustand der Kranken bleiben. […] [E]ine ganze Anzahl von Kranken [ist] unmittelbar oder mittelbar infolge mangelhafter Ernährung gestorben. Die Kranken wurden mager, sahen blass & gedunsen aus, die Füße schwollen an, der Puls wurde klein, es stellten sich Durchfälle einfacher oder von ruhrartigem Charakter ein. Ein Teil derartig Erkrankter erholte sich zwar wieder, ein anderer Teil aber starb.“

Die „Ödemkrankheit“

Anstaltspfarrer Stille gab häufig „Erschöpfung“ als Todesursache in den Sterbebüchern an. Auch Darmkatarrhe, Herzschwäche, oder Lungenentzündungen nahmen als Folge hochgradiger Unterernährung deutlich zu. Der Mangel an tierischen und pflanzlichen Eiweißen ließ gerade in den Anstalten sogenannte „Hungerödeme“ entstehen. Die Ödeme äußerten sich in einer starken Entkräftung des Körpers mit Anschwellungen der Arme und Beine. In der Regel führte die Erkrankung zum Tod, wenn keine bessere Nahrung gereicht wurde.  Wie viele der zwischen 1914-1919 offiziell in der Warsteiner Anstalt gezählten 1272 Todesfälle direkt auf die Mangelernährung und die prekären Zustände zurückzuführen sind, lässt sich nicht mehr eindeutig ermitteln. 

Sterberate 1914-1919: 1914 sind von 1799 Patient:innen 117 gestorben, 1918 waren es 332 Toten bei 1502 Patient:innen, 1919 starben von 1223 rund 124.

Sterberate an der Heilanstalt Warstein 1914-1919.

Todesursachen im Jahr 1918, Grafik: LWL/Emil Schoppmann

Todesursachen im Jahr 1918.

Ausschnitt aus dem Deckblatt einer Patientenakte, Foto: LWL-Archivamt für Westfalen

Patientenbiografien

Der Krieg wirkte sich auf die Menschen in der Warsteiner Anstalt ganz unterschiedlich aus. Die meisten Patientinnen und Patienten litten an einer psychischen Erkrankung und lebten häufig bereits mehrere Jahre oder Jahrzehnte in der Anstalt. Einen Einblick in die verschiedenen Schicksale geben Patientenakten. Sie sind in Archiven überliefert und beinhalten Einträge von Ärzten, Verwaltungsschriftverkehr, Briefe mit den Angehörigen und Behörden.

Erkrankung: „Ödemkrankheit“

Enrico R. wurde am 19. Februar 1869 in Frisanco, in Oberitalien geboren. Nach Kriegsbeginn kam er als Steinbrucharbeiter nach Deutschland und wohnte in Altendorf im Kreis Hattingen. Der dortige Altenberger Höhenrücken war ein bekanntes Kalksteinabbaugebiet und ein großer Arbeitgeber der Region. Infolge der zunehmenden Kriegsnachrichten soll R. unruhig und aufgeregt geworden sein. Italien erklärte dem Deutschen Reich im August 1916 den Krieg, nachdem es bereits gegen Österreich-Ungarn in den Krieg eingetreten war.

R. kam in das Krankenhaus in Königssteele und wurde auf Antrag der Polizeiverwaltung am 07. Juni 1916 in die Heilanstalt Warstein eingeliefert. Da er kein Vermögen besaß, erhielt R. wie der Großteil der Patienten eine Verpflegung in der III. Pflegeklasse. Die Verpflegungskosten übernahm die Allgemeine Ortskrankenkasse in Hattingen. Mangelnde Sprachkenntnisse und Verständigungsschwierigkeiten führten dazu, dass das Pflegepersonal kaum auf Enrico R. Bedürfnisse eingehen konnte. Obwohl er laut Krankenakte mit einer guten körperlichen Verfassung in die Anstalt eingeliefert worden war, starb R. am 08. November 1917 infolge der sogenannten „Ödemkrankheit“. Seine Leiche wurde auf dem Anstaltsfriedhof beigesetzt. Erst im Jahr 1920 erfuhr die in Frisanco lebende Ehefrau vom Tod ihres Mannes. Die drei gemeinsamen Kinder wuchsen ohne ihren Vater auf.

Einstufung: "Berginvalide"

Heinrich R. wurde am 08. Dezember 1850 in ärmlichen Verhältnissen in Tietelsen bei Beverungen geboren. Er wurde Bergmann in Bochum, heiratete und hatte einen Sohn. Ein Brustleiden führte zu seiner Entlassung aus der Zeche und seiner Einstufung als „Berginvalide“. Obwohl R. eine leichtere Beschäftigung suchte, konnte er keine Arbeit finden. Im März des Jahres 1890 wurde R. das erste Mal auffällig, als er im Haus mit Gegenständen warf und seine Frau schlug. Dieselbe teilte brieflich mit, dass ihr Mann sich am Abend zuvor mit einem befreundeten Koksarbeiter in einer Wirtschaft getroffen habe. Die beiden planten einen Verein zu gründen. Auch von Auswanderung und großen Zukunftsplänen sei die Rede gewesen.

R. kam in das Elisabeth-Hospital, wo er sich tobsüchtig verhielt und von mehreren Personen gebändigt werden musste. Am 03. Mai 1890 wurde er das erste Mal in das St. Johannes-Hospital zu Marsberg überführt. Drei Jahre später wurde er als „ungeheilt“ entlassen. Am 21. Februar 1901 kam es erneut zu einer Aufnahme in Marsberg. Weil R. Stimmen hörte und an Verfolgungswahn litt wurde bei ihm „Altersschwachsinn“ (Paranoia chronica) diagnostiziert. Als er am 17. Oktober 1906 als „ungeheilt“ in die Anstalt nach Warstein überführt wurde, wog er nur noch 65 Kilogramm. In der Anstalt wechselten sich ruhige mit unruhigen Phasen ab. Zeitweise half R. auf der Abteilung und beschäftigte sich mit Tütenkleben.

Am 10. September 1918 wurde der Ehefrau mitgeteilt: „Ihr Mann geht in letzter Zeit offenbar infolge der mangelhaften Anstaltsernährung in seinem Kräftezustand bedenklich zurück.“ Einen Tag später starb Heinrich R. Seine Leiche wurde auf dem Anstaltsfriedhof beigesetzt.

Diagnose: „Schwachsinn“

Adelheid H. wurde am 8. Juli 1866 in Epe im Kreis Ahaus als Tochter eines Kötters geboren. Sie besuchte die Volksschule und bekam später ein uneheliches Kind. Ihr Bruder Bernhard kümmerte sich um sie und den Sohn. Bei ihrer Aufnahme in Warstein am 13. September 1911 war Adelheid H. ledig und ohne Beruf. Laut Krankenakte wurde die Diagnose „Schwachsinn“ gestellt. Angeblich war sie gegenüber Personen handgreiflich geworden.

In der Anstalt wurde H. in der Handwäscherei beschäftigt. Eine Genesung galt als ausgeschlossen. Jährlich erkundigte sich Adelheids Bruder brieflich über den Zustand seiner Schwester. Im Jahr 1914 erfolgten mehrere Versuche, sie in Familienpflege zu geben, da sie einfache Arbeiten in Hof und Stall leisten könne. Nachdem Adelheid H. von ihrer Pflegefamilie in Körtlinghausen fortgelaufen war, wurde sie im September desselben Jahres in Arnsberg aufgegriffen und zurück in die Warsteiner Anstalt gebracht. Ab Juli 1918 verschlechterte sich ihr körperlicher Zustand, sodass H. bettlägerig und dreimal auf verschiedene Stationen verlegt wurde. In einem Schreiben vom 22. Oktober an den Sohn heißt es: „Sie liegt jetzt meistens zu Bett, da sie Schwellungen der Füsse bekommt, wenn sie etwas länger auf ist. Augenblicklich ist der Zustand wohl noch nicht gerade bedenklich, wird es aber für die nächste Zeit werden. Hinzu komm[en] noch die durch die Kriegslage bedingte[n] allgemein weniger guten Ernährungsverhältnisse.“ Adelheid H. starb am 23. November 1918 im Alter von 52 Jahren und wurde auf dem Anstaltsfriedhof beigesetzt.

Todesursache: "Erschöpfung"

Maria T. wurde am 07. August 1874 als Tochter des Bergmanns Wilhelm T. in Wattenscheid geboren. Sie heiratete Matthias S., der ebenfalls als Bergmann tätig war. Gemeinsam hatten sie einen Sohn. Der Tod ihres Mannes traf Maria S. schmerzlich. Selbst tagsüber blieb sie im Bett liegen und vernachlässigte den Haushalt. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt im Wattenscheider Marienhospital wurde sie am 09. Dezember 1914 in die Warsteiner Anstalt überführt. Schon bei ihrer Aufnahme war sie in schlechter körperlicher Verfassung, verhielt sich menschenscheu und melancholisch. Die meiste Zeit war sie bettlägerig, hörte Stimmen und klagte über Kräftemangel. Bald verweigerte Maria S. die Nahrungsaufnahme. Aufgrund ihrer Wahnvorstellungen erhielt sie Dauerbäder und wurde mit Opium behandelt.

Im September 1917 wurde S. Sohn Soldat und kam in das Festungslazarett der 10. Abteilung in Straßburg im Elsass. Seine Mutter hatte er seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Mehrmals erkundigte er sich brieflich nach ihrem Zustand. Da sie sich angeblich jedes Mal sehr darüber aufregte, wurden die Briefe schon bald nicht mehr zugestellt. Nachdem sich der körperliche Zustand verschlechterte, starb Maria S. am 06. März 1918 an „Erschöpfung“ und wurde auf dem Anstaltsfriedhof beigesetzt. Dem Sohn blieben zwei Ringe und ein Portemonnaie als Andenken.

Fotos gefallener Mitarbeiter der Heilanstalt Warstein, Foto: LWL/Emil Schoppmann

Das Andenken des Krieges

Das „Heldengedenken“ wurde bereits im Krieg vorbereitet: Laut einer Verfügung des Landeshauptmanns Hammerschmidt vom 20. August 1917 sollte das Andenken an die gefallenen Angestellten und Beamten der Provinzialverwaltung bewahrt werden. Fotos der Verstorbenen wurden gesammelt, welche die Angehörigen zum Teil selbst zuschickten. Im Warsteiner Psychiatriemuseum haben sich 18 Fotografien von gefallenen Mitarbeitern erhalten. Zu einer Verwendung oder der Anfertigung eines Gedenkbuches kam es allerdings nicht. Stattdessen schuf der Bielefelder Künstler Professor Franz Guntermann im Jahr 1923 eine hölzerne Gedenktafel. Neben den Namen der 40 gefallenen Angestellten und Klinikmitarbeiter zeigt sie eine kniende Maria mit dem Leichnam Christi in Form einer Pietà.

An den Tod hunderter Patienten wurden dagegen nicht offiziell erinnert. Heute dient die 1985 eingerichtete Treisekapelle als Gedenkort für alle Opfer der Klinik.

Die Erinnerungstafel in der Treisekapelle, Foto: LWL/Emil Schoppmann

Erinnerungstafel in der Treisekapelle für die Opfer des Ersten Weltkriegs.

Verfügung des Landeshauptmanns Hammerschmidt 28.08.1917, Foto: LWL-Psychiatriemuseum Warstein

Verfügung des Landeshauptmanns Hammerschmidt vom 20. August 1917

Vergessene Opfer?

Der Krieg entzog der Warsteiner Anstalt die personelle und materielle Basis zur Erfüllung ihrer fürsorgerischen Aufgaben. Auch die Menschen außerhalb der Anstalten waren von der allgemein schlechten Ernährungslage betroffen. In einer Zeit der Not und des Hungers blieb nur wenig Interesse für die Lebensbedingungen von Kranken. Als ein „notwendiges Opfer“ wurde das Hungersterben von Ärzten, Politikern und in der Bevölkerung ohne große Kritik hingenommen. Die Erfahrungen des Krieges markierten den Beginn einer Entwicklung, die in den 1930er Jahren zur Etablierung einer rassenhygienischen Ethik führte. Es setzte sich die Auffassung durch, dass psychisch kranke und behinderte Menschen bei der Versorgung hinter allen anderen gesellschaftlichen Gruppen zurückzustehen hatten. Der Platz der Kranken und Behinderten in der Gesellschaft war infrage gestellt und der Boden für noch radikalerer, vernichtende Maßnahmen bereitet. 

Die Treisekapelle dient seit 1985 als Gedenkort, Foto: LWL/Emil Schoppmann

Die Treisekapelle dient seit 1985 als Mahn- und Gedenkort.

Text: Emil Schoppmann M.A.

Quellenverzeichnis

Literatur:

Markus Rachbauer u. Florian Schwanninger (Hg.): Krieg und Psychiatrie. Lebensbedingungen und Sterblichkeit in österreichischen Heil- und Pflegeanstalten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim, Bd. 5, 2023.

Thomas Becker, Heiner Fangerau, Peter Fassl, Hans-Georg Hofer (Hg.): Psychiatrie im Ersten Weltkrieg, Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Bd. 12, München 2021.

Ulrike Thoms: Hunger. Ein Bedürfnis zwischen Politik, Physiologie und persönlicher Erfahrung (Deutschland, 19. und 20. Jahrhundert). In: Body Politics 3 (2015), Heft 5, S. 135-175.

Maria Hermes: Psychiatrie im Krieg. Das Bremer St. Jürgen-Asyl im Ersten Weltkrieg, Köln 2013.

Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg im Breisgau 1998.

Bernd Walter: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime. Forschungen zur Regionalgeschichte Bd. 16, Paderborn 1996.

Franz-Werner Kersting: Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Das Beispiel Westfalen, Paderborn 1996.

Hermann Simon: Die Provinzialheilanstalt Warstein in Westfalen. In: Johannes Bresler: Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild, Bd.1, Halle a. S. 1910, S. 321 - 336.

Quellen:

Westfälischen Provinzialverwaltung über ihre Tätigkeit. Jahre 1910-1920.

LWL-Archivamt für Westfalen, Archiv LWL, Best. 660/

660/256: Anstaltsfriedhof

660/258: Mobilmachung

660/260: Jahresberichte

660/580: Sterberegister der Pfarrei St. Elisabeth

660/581: Sterberegister der Pfarrei St. Elisabeth

660/585: Reservelazarett